“[Indian Prime Minister] Modi [is] leading the global climate movement and the world is ready to be led by India in its fight against climate change.”
(MST, 2023)
Mit diesem klaren Anspruch, welcher vom indischen Technologieminister Singh formuliert wurde, versucht Indien seit etwa Mitte 2023 international Klimaschutz und die Reduktion der Treibhausgasemissionen global aktiv mitzugestalten. Allerdings ist Indien – immerhin das bevölkerungsreichste Land der Welt – aktuell im internationalen Vergleich mit etwa 3 Gt CO2-Äquivalent pro Jahr drittgrößter Treibhausgasemittent. Damit ist Indien allein derzeit für knapp 10% der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Wie lässt sich dieser krasse Widerspruch zwischen Realität und Selbstdarstellung erklären?
Indiens historischer Treibhausgasausstoß ist seit dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes in den 1960er Jahren konstant gestiegen; Ausnahme war nur ein kleiner Rückgang der Emissionen während der Corona-Pandemie. Die größten Emissionen werden dabei durch die Stromerzeugung verursacht (40%), da Indien nach wie vor über die Hälfte seiner elektrischen Energie aus Kohleverstromung gewinnt (55%). In Deutschland ist Kohle derzeit für weniger als 20% der Stromproduktion verantwortlich. Ebenfalls hohe Emissionen fallen in der Bauindustrie, in der Landwirtschaft und im Transportsektor an (Abb. 2). Ein großes Problem stellen in Indien zurzeit auch Emissionen durch illegale Mülldeponien dar, durch die vor allem Methan in die Atmosphäre gelangt.
Abb. 3 (rechts): Gewichtung der Treibhausgase am gesamten Treibhausgaseffekt Indiens 2016 nach CO2e (in %). Eigene Abbildung mit Daten nach MoEFCC, 2021.
Bei der Betrachtung der verschiedenen emittierten Treibhausgase fällt auf, dass CO2 für etwa 80% des durch Indien verursachten Treibhausgaseffekts verantwortlich ist. Methan (CH4) mit etwa 15% – besonders aus der Landwirtschaft – spielt ebenfalls eine nicht zu vernachlässigende Rolle (Abb. 3).
Indiens Rolle als drittgrößter Treibhausgasemittent mit auffällig hohen Emissionen im Energie- und Bausektor lässt sich nur schwer in Einklang bringen mit dem aktuellen Führungsanspruch des Landes. Diesen betont Modi seit 2023 fortlaufend und stellt Indien damit an die Spitze der globalen Bemühungen zur Emissionsreduktion. Wie kann das sein?
Tatsächlich trat Indien lange bremsend bei internationalen Klimaverhandlungen auf – auch 2015 bei der Aushandlung des Pariser Klimaabkommens. Darin ist festgehalten, die Globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu begrenzen. Ihre zögerliche Haltung begründete die politische Führung Indiens mit zwei sich immer wiederholenden Argumenten. Einerseits verwies sie auf drängendere nationale Probleme, wie Hunger, Armut, fehlende Infrastruktur, und weiteres. Andererseits stritt sie ihre Verantwortung zur Emissionsreduktion ab und berief sich dabei auf die „Historische Klimaschuld“ und den höheren Pro-Kopf-Ausstoß in den westlichen Industrieländern. Der aktuelle CO2-Ausstoß pro Kopf in Indien beträgt pro Jahr ca. 2,0 t und damit weniger als die Hälfte des globalen Durchschnitts mit 4,7 t und nur ein Viertel der deutschen Pro-Kopf-Emissionen mit etwa 8,0 t jährlich. Die damit gerechtfertigte ablehnende Einstellung der indischen Regierung änderte sich erst auf der Klimakonferenz 2021 in Glasgow (COP26). Dort präsentierte Modi erstmals eine nationale Klimaschutzstrategie mit dem Ziel, Indien bis 2070 klimaneutral zu machen – 25 Jahre nach Deutschland und damit im internationalen Vergleich sehr spät. Diese unerwartete 180°-Wende Indiens hat sich seit September 2023 nochmal deutlich gefestigt. Sowohl beim letzten G20-Gipfel als auch bei der COP28 in Dubai 2023 trat Indien als aktiver Player im Kampf gegen Treibhausgasemissionen auf. Besonders lobte sich das Land für eine von ihm gegründete internationale Solar-Allianz (ISA). Hauptziel dieser Initiative, die sich vor allem an global gesehen weniger entwickelte Staaten richtet, ist es, die effiziente Nutzung von Solarenergie voranzutreiben und sich dadurch unabhängig von fossilen Energieträgern zu machen.
Bei Projekten wie diesen wird Indien international finanziell unterstützt – unter anderem auch von Deutschland. Denn es steht fest: Ohne Indien kann globaler Klimaschutz nicht gelingen. Insgesamt positioniert sich das Land mittlerweile klar für Treibhausgasemissionsreduktion und bekennt sich engagiert zum Pariser Klimaabkommen.
Aber kann Indien diesem Anspruch überhaupt gerecht werden, vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Emissionsbilanz? Welche Möglichkeiten hätte das Land beziehungsweise ergreift es bereits?
Seit der Klimakonferenz in Glasgow hat die indische Regierung verschiedene und vielfältige Pläne zum Erreichen der selbstgesteckten Ziele vorgestellt. Dabei verfolgt Indien zwei Schwerpunkte: Erstens setzt das Land große Hoffnungen auf einen gezielten Umstieg auf erneuerbare Energien, vor allem durch den Ausbau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen. In beide Energiequellen wird bereits seit etwa 2010 investiert; so hat sich beispielsweise die Kapazität der Windkraft Indiens seitdem fast vervierfacht. Ende 2020 soll die Windkraftleistungskapazität fast 42 GW betragen haben (knapp 5% der aktuellen Stromkapazität des Landes), bis 2030 will das Land seine Windkraftleistung auf 140 GW erhöhen. Besondere Zukunftsaussichten in diesem Rahmen bieten geplante Errichtungen von Offshore-Windparks – begünstigt durch die lange Küstenlinie des Landes – welche über 20% der bis 2030 angestrebten Leistung erbringen sollen. Auch bei Solarenergie zeigt Indien ähnliche Tendenzen: Heute belegt das Land global den vierten Platz unter Solarstromerzeugern. In der nationalen Klimaschutzstrategie sollen bis 2030 alles in allem 40% des Gesamtstroms aus nicht-fossilen Quellen stammen.
Zweitens strebt Indien eine deutlich gesteigerte Energieeffizienz an, vorrangig im Bau- und Energiesektor. Hierbei setzt Indien weiterhin bewusst auf Kohle, will diese noch nicht unmittelbar als Hauptenergieträger in diesen Sektoren verdrängen, jedoch wirksamer nutzen. Durch die Schaffung neuer Behörden wie dem Bureau of Energy Efficiency (BEE) und der Implementierung neuer, verschärfter Gesetze konnte die Energieeffizienz vor allem im Industriesektor deutlich gesteigert werden. Dank dieser Maßnahmen wurden beispielsweise im Jahr 2018 12% Energie im Vergleich zu Projektionen ohne diese Maßnahmen eingespart. Diese Entwicklung steht auch im Einklang mit den bereits seit Jahrzehnten von der indischen Regierung geforderten Energiesparmaßnahmen in der Industrie.
Eine große Chance für die Senkung der Nettoemissionen des Landes ist auch das hohe Senkenpotenzial (CO2-Aufnahme durch Vegetation und Böden) durch veränderte Landnutzung, unter anderem durch Wiederbewaldung. Seit den 1980er Jahren gibt es eine Vielzahl von Wiederaufforstungsprojekten. Insgesamt sollen zwischen 2015 und 2030 durch diese Maßnahmen etwa 3 Mrd. t CO2-Äquivalent eingespart werden, was ungefähr dem aktuellen jährlichen Gesamttreibhausgasausstoß Indiens entspricht. Diese Pläne stehen jedoch teilweise im Gegensatz zum andauernden Holzschlag für Bergbau und Infrastrukturausbau. Auch das Festklammern Modis an der weiteren massiven Kohlenutzung stellt die gesamte Glaubwürdigkeit der ambitionierten Klimaziele Indiens in Frage.
Um unsere einleitende Frage zu beantworten, lässt sich festhalten, dass Indien als Schwellenland in einem schwierigen Dilemma steckt. Zugunsten des Wirtschaftswachstums ist das lange Zögern der Regierung bei echten Bemühungen zur Treibhausgasemissionsreduktionen teilweise verständlich. Die allmähliche Kehrtwende der politischen Führung, die sich seit Ende 2021 andeutet, macht Indien zu einem Land mit klaren Klimaschutzzielen, das sich selbst gerne als treibende Kraft bei der internationalen Klimawandelmitigation sieht. Und tatsächlich hat der Staat ein hohes Potential, seine Emissionen zu reduzieren. Allerdings zeigt der markante Widerspruch zwischen Selbstdarstellung und Realität bereits die Gefahr der großen „Attitude-Behaviour-Gap“ im Land. Denn reden alleine reicht nicht, selbst wenn die Bekenntnisse in die richtige Richtung gehen. Die aktive Umsetzung der geplanten Maßnahmen in den kommenden Jahren ist entscheidend. Denn die aktuellen Bemühungen Indiens reichen nicht aus, um die Pariser Klimaziele, insbesondere die 1,5-Grad-Grenze, zu erreichen.
Hoffnung macht die Einstellung der indischen Bevölkerung zum Thema Klimawandel. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Yale Program on Climate Change Communication von 2022 zeigt insgesamt ein hohes Bewusstsein und eine realistische Risikowahrnehmung der Inder*innen in Bezug auf globale Erwärmung sowie Emissionsreduktionsmaßnahmen. Die indischen Parlamentswahlen im Frühjahr 2024 stellen nun eine herausragende Chance dar, das indische Engagement für Treibhausgasemissionsreduktion weiter zu pushen und so den Führungsansprüchen des Global Players gerecht zu werden.
Autor*innen: Sonja Panke, Jonas Petri, Elisaveta Harten
Quellen
Literaturuellen:
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Abbildungen:
• Abb. 1: Press Information Bureau Government of India, 2021: Photo, Link: https://pib.gov.in/photshare/103397_3_1_photoshare.aspx (letzter Zugriff: 22.02.2024)
• Abb. 2: Ministry of Environment, Forest and Climate Change Government of India (MoEFCC), 2021: Third Biennial Update Report to the United Nations Framework Convention on Climate Change, S. 149, Link: https://unfccc.int/documents/268470 (letzter Zugriff: 22.02.2024); Gupta, N. und Olickal, S., 2024: India’s Shift to Low-carbon Construction Must Not Leave Workers Behind, Link: https://www.wri.org/insights/india-just-transition-low-carbon-construction#:~:text=India's%20buildings%20and%20construction%20sector,prefabricated%20construction%20materials%20and%20technology. (letzter Zugriff: 22.02.2024)
• Abb. 3: Ministry of Environment, Forest and Climate Change Government of India (MoEFCC), 2021: Third Biennial Update Report to the United Nations Framework Convention on Climate Change, S. 149, Link: https://unfccc.int/documents/268470 (letzter Zugriff: 22.02.2024)