Französisch-Polynesien – eine moderne Kolonie Frankreichs? Die Geostrategie Frankreichs im Indopazifik und ihre Auswirkungen für die lokale Bevölkerung

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Weltkarte; Territorien unselbständiger Regionen
Karte mit allen Territorien, deren Bevölkerung noch keine vollständige autonome Regierung entwickelt haben. Laut UN Beschluss im Kapitel XI der Charter of the United Nation (Quelle: https://www.un.org/dppa/decolonization/en/nsgt).

Die UN Kommission für Dekolonialisierung nahm Französisch-Polynesien 2013 auf die Liste der nichtautonomen Territorien auf. Das bedeutet, dass die Inselgruppe inmitten des Pazifiks den Status einer Kolonie erreicht, was sich in verschiedener Weise vor Ort auswirkt: Einerseits sind große Teile der lokalen Bevölkerung stark durch Frankreich in ihrer politischen Entscheidungsmacht eingeschränkt, andererseits unterstützt Frankreich sowohl finanziell als auch sozial, zum Beispiel durch Unterstützung in Bereichen Krankenpflege und Bildungssystem. Klar ist das Ziel der UN, sich weiter für eine dekolonisierte Welt einzusetzen, das bedeutet, dass Französisch-Polynesiens Verwaltungssystem neu aufgestellt werden muss.

Kann bzw. will sich Französisch-Polynesien überhaupt von dieser Abhängigkeit lösen und welche politischen Alternativen stünden potentiell zur Diskussion?

Französisch-Polynesien ist eine Inselgruppe im Südpazifik. Die Hauptinsel Tahiti ist darunter die bekannteste, auf ihr liegt die Hauptstadt Papeete. Sie ist bis heute geprägt von indigenen Kulturen, jedoch wurde die indigene Gesellschaft seit der ersten Entdeckung durch einen französischen Reisenden im Jahr 1766 stark durch das westliche Verständnis von Zivilisation beeinflusst.

Als sich Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals Franzosen auf den Inseln niederließen, war der Wettlauf um Überseegebiete zwischen europäischen Großmächten voll entbrannt. Frankreich „brauchte“ diese Inseln, um seine Weltmachtstellung zu behaupten. Nicht nur im Pazifik, sondern auch in anderen Teilen der Erde wie in Afrika und der Karibik, rangen England, Niederlande, Portugal und eben Frankreich um Gebietserweiterungen. Die französischen Kolonialisten verdrängten die indigene Bevölkerung und übernahmen, teils gewaltsam, die Regierung und führten Inselgruppen zusammen.

Im Schatten des wirtschaftlichen Erfolgs der Kolonialmächte wurde das Leid der indigenen Bevölkerung billigend in Kauf genommen.„Gebietseroberung“ bedeutete oftmals Enteignung und Zwangsumsiedelung. „Einfluss auf den lokalen Markt nehmen“ bedeutete, dass lokale Plantagen, die seit Jahrhunderten in Familienbesitz waren, in französische Hände kamen und auf Massenproduktion umgestellt wurden. „Internationale Handelsbeziehungen knüpfen“ bedeutete, dass der lokale Markt aus seiner Balance gebracht wurde und die indigene Bevölkerung dazu gezwungen war, ihre Ernährung umzustellen. All diese Entscheidungen entziehen sich oftmals der Einflussnahme durch die indigenen Bevölkerung.

Frankreich trieb dies 1960 auf die Spitze. Zunächst beeinflusste Frankreich die Wahlen zur Unabhängigkeit so weit, dass es zum Verbleib bei Frankreich kam und baute dann ein Testzentrum für Atomwaffen auf den äußeren Inselgruppen, die sich weit entlegen von Bevölkerung mitten im Südpazifik befand. Dort wurden über die nächsten 30 Jahre unzählige Atomwaffentest durchgeführt. Auf Grund des versprochenen Wirtschaftsaufschwungs waren große Teile der Bevölkerung auch für den Bau. Was sie damals nicht wussten, war, dass Frankreich kaum Rücksicht auf die Gesundheit der Bewohner nahm und mögliche Folgen der Strahlenbelastung unter den Teppich kehrte.

Frankreich verhinderte lange Zeit Nachforschungen und Untersuchungen zur Strahlenbelastung durch unabhängige Umweltinitiativen in der Nähe dieser Region. Heute ist belegt, dass die Strahlenbelastung Schilddrüsen- und Gallenkrebs verursacht, das Auftreten von Herz-Kreislaufproblemen erhöht und das Risiko bei Schwangerschaften steigert. Frankreich bestritt diese Negativfolgen noch lange nach der Schließung der Anlage 1996 und die Schadensersatzzahlungen, die seit 2009 gezahlt werden, erreichen bis heute nicht alle Betroffenen gleichermaßen. Die kolonialen Verhaltensweisen gehen also immer noch weiter.

Wie würde die lokale und indigene Bevölkerung und Kultur in Französisch-Polynesien ohne Kolonialismus heute aussehen? Unser kolonialistisches Erbe zeigt sich eben darin, dass es fast selbstverständlich erscheint, dass wenn nicht Frankreich die Inseln erobert hätte, es eine andere europäische Kolonialmacht getan hätte. Die Vorstellung eines indigenen, selbstverwalteten Französisch-Polynesiens kommt einer Utopie gleich.

Gerechtfertigt mit der geostrategischen Notwendigkeit hat Frankreich Maßnahmen ergriffen, die die Politik und Wirtschaft so stark veränderten, dass auch die Kultur und Identität der indigenen Bevölkerung davon beeinflusst wurde. Den positiven Auswirkungen steht die Frage nach dem Preis gegenüber, zu welchem diese erlangt wurden, und ob es nicht alternative Wege gäbe, die mehr im Einklang mit der indigenen Bevölkerung sind.

Interessant ist auch die Frage, wo Frankreich heute stünde, hätte es den politischen und wirtschaftlichen Erfolg der bis heute andauernden Kolonialisierung nicht erfahren. Lässt sich der geopolitische Wert überhaupt punktuell messen oder ist dieser nicht viel mehr zeitlos, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinweg? Dies könnte unter anderem relevant werden, wenn Französisch-Polynesien unabhängig werden würde. Steht Frankreich in dessen Schuld, und wenn ja, könnte eine finanzielle Kompensation dem ansatzweise gerecht werden?

Die geopolitischen Handlungen Frankreichs haben in vielerlei Hinsicht Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung Französisch-Polynesiens. Ob durch Wirtschaftsaufschwung und damit einher gehendem Anstieg des Lebensstandards oder durch Einschränken der Selbstbestimmung und politischer Bevormundung – das Gebiet bleibt noch lange durch die Kolonialisierung beeinflusst.

Wie lange können wir in Deutschland und Europa noch zuschauen, wie unser Nachbarland Profit über Respekt stellt? Inwiefern profitieren wir Deutschen davon, dass Frankreich als europäisches Land der Dekolonialisierung nicht nachgeht? Wo nutzt Deutschland die auf die Kolonialisierung zurückgehenden Bündnisse zu unserem politischen und wirtschaftlichen Vorteil und geschieht das im Einklang mit der indigenen Bevölkerung?

Eine Antwort auf die Fragen erfordert eine umfangreiche Recherche, denn auch der Bildungssektor ist durch die Kolonialzeit geprägt. Das westliche Narrativ der Geschichte wird immer noch verschönert und neutral dargestellt und durch Wort- und Informationswahl bekommt die indigene Stimme oft kein Gehör. Es liegt an uns allen, sich dessen bewusst zu werden, anzufangen zu reflektieren.

Quellen

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