Falsche Vorwürfe – Das Nicht-Identitäts-Problem und unsere Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen

  • Startseite
  • Falsche Vorwürfe – Das Nicht-Identitäts-Problem und unsere Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen
Änderung der globalen Oberflächentemperatur 1950-2100
Der Temperaturanstieg wird für die verschiedenen sozioökonomischen Szenarien (SSPs) in Kombination mit verschiedenen Strahlungsantrieben (in W/m², Maß für die Änderung der Energiebilanz der Erde) modelliert. Die Szenarien beziehen Klimaschutzmaßnahmen nicht direkt mit ein, geben aber Aufschluss über die Auswirkungen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und Entscheidungen. Bei SSP1 wird das 2°C-Ziel noch erreicht, SSP5-8.5 steht hier stellvertretend für eine Welt in der fossile Brennstoffe weiterhin intensiv genutzt werden. (Quelle: IPCC (2021), Figure SPM.8, S.23).

Der anthropogene Klimawandel wird nicht nur als naturwissenschaftliches und soziales Problem betrachtet. Unser Umgang damit und welche Verantwortung wir dadurch gegenüber den zukünftigen Generationen haben, zeigt, dass die globale Erwärmung vor allem auch ein moralisches Problem ist. Bei einer philosophischen Betrachtung des Klimawandels tun sich allerdings Fragestellungen auf, die unsere bisherigen Annahmen zum Klimaschutz aus den Angeln heben können.

Wir schreiben das Jahr 2122. Die 15-jährige Alina sitzt in ihrem Zimmer, die Rollläden sind geschlossen, die Klimaanlage dröhnt. Nur so ist die sengende Hitze auszuhalten, die bereits seit drei Wochen anhält. Gut, dass sie noch so jung und gesund ist, denkt sich die Jugendliche. Hitzewellen, wie sie mittlerweile alle paar Jahre auftreten, kosten viele Menschenleben, das weiß jedes Kind. Trotzdem sind die Temperaturen auch für sie kaum zu ertragen. Warum haben die Leute vor 100 Jahren nichts unternommen, obwohl sie wussten, dass die Treibhausgase, die sie produzierten, den zukünftigen Generation extreme Hitzeereignisse, Flutkatastrophen, Dürren und viele andere Probleme bringen und zahlreiche zusätzliche Tote fordern würden? Hätten die Menschen in der Vergangenheit den Klimawandel ernster genommen, ginge es ihr und ihrer ganzen Generation besser, davon ist Alina überzeugt.

Alina hat recht damit, dass der Umgang unserer Generation mit dem Klimawandel einen großen Einfluss auf die zukünftigen Generationen haben wird. Bei der Betrachtung der im neuesten Bericht des IPCC herangezogene Szenarien zur Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur für das Jahr 2100 im Vergleich zum Referenzzeitraum von 1850-1900 wird sichtbar, dass es noch möglich ist, das 2°C-Ziel des Pariser Klimaabkommens von 2015 zu erreichen. Allerdings könnte sich in einem anderen Szenario auch Temperaturerhöhungen von mehr als 4°C einstellen (siehe Abbildung). Je größer die Temperaturerhöhung ausfällt, umso gravierender sind die Folgen des Klimawandels. Zudem könnten bei einer Erhöhung über 2°C Kipppunkte erreicht werden, die den Klimawandel zusätzlich beschleunigen würden. In einem Punkt irrt sich Alina allerdings: Es ginge ihr nicht besser, würden wir uns ab jetzt um mehr Klimaschutz bemühen.

Was auf den ersten Blick unplausibel erscheinen mag, fußt auf einem in den 1970er Jahren von mehreren Philosophen unabhängig voneinander beschriebenen philosophischen Problem, das unter den Namen ‚Nicht-Identitäts-Problem‘ (kurz NIP) oder ‚Paradoxon künftiger Individuen’ bekannt ist. Grundfrage dieses Paradoxons ist es, inwieweit die Pflicht zu einer Handlung oder Unterlassung der Handlung gegenüber künftigen Menschen bestehen kann, wenn die Existenz dieser Menschen von der Handlung selbst abhängt. Im Falle von Alina wäre diese Handlung der Klimaschutz: Weitreichende Klimaschutzmaßnahmen würden die Welt in 100 Jahren derart verändern, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Alinas Generation aus denselben Individuen bestünde und auch Alina würde wahrscheinlich nicht geboren werden. Daher ist Alinas Existenz von unserer Entscheidung für oder gegen den Klimaschutz abhängig und Alina kann nur in einer Welt existieren, in der sich unsere Generation gegen Klimaschutzmaßnahmen entschieden hat. Man kann sich das NIP vereinfacht wie das Zeitreiseparadoxon vorstellen: Würde Alina in die Vergangenheit reisen und uns dann erfolgreich zu mehr Klimaschutz bewegen, würde sie die Welt dadurch derart verändern, dass es sie selbst gar nicht geben würde. Ihr Vorwurf wird dadurch ungültig, da es ihr in einer Welt, in der wir gegen den Klimawandel gekämpft haben, nicht besser gehen kann, weil sie darin nicht einmal existiert. Das gilt selbst, wenn sie im Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels ums Leben käme.

Das NIP ist dadurch in der Lage, jegliche moralische Verpflichtung gegenüber den zukünftigen, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an den Folgen des Klimawandels leidenden Generationen auszuhebeln. Allerdings widerspricht das Paradoxon womöglich intuitiv allem, was wir im Bezug auf den Klimawandel bisher über unsere Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen gelernt haben und für moralisch richtig empfinden. Auch das NIP selbst, welches nicht ausschließlich auf Klimawandelfragen bezogen wird, ist immer wieder Gegenstand philosophischer Debatten und es existieren mehrere Versuche, das Problem zu lösen.

Eines der Argumente, die sich gegen das NIP richten, verweist auf die allgemeine Überbewertung der Handlung, die als identitätsbestimmend angesehen wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass nicht allein der fehlende Klimaschutz dafür verantwortlich ist, dass es genau die Alina aus unserem Beispiel gibt. Das Argument fußt auf einer der Grundannahmen des NIP, bei der davon ausgegangen wird, dass die Identität einer Person mit den Keimzellen zusammenhängt, aus denen sie entstanden ist: Für das genetische Material, aus dem Alina besteht, sind neben unserer Entscheidung gegen den Klimaschutz noch zahlreiche andere Einflussfaktoren verantwortlich, darunter welche von globalem Ausmaß, aber auch die Familienplanung von Alinas Eltern bis hin zu ihren speziellen Zeugungsumständen. Deshalb wäre es verfehlt, den Klimaschutz als den einen entscheidenden Faktor zu betrachten, der dafür sorgt, dass Alina nicht existieren wird.

So einfach dieser erste Lösungsvorschlag wirken mag, so verkürzt ist er auch. Zwar mag es sein, dass es eine Vielzahl von Faktoren gibt, die letztendlich dazu führen würden, dass es Alina gibt. Allerdings wird die Entscheidung, ob wir in größerem Maße Klimaschutz betreiben, die Welt derart verändern, dass unser Handeln in jedem Fall einen großen Einfluss auf die Existenz Alinas nehmen wird. Der Klimaschutz bzw. Klimawandel ist dadurch nicht mehr nur ein winziger Faktor unter vielen. Um das NIP zu lösen, müssen daher andere Ansätze her.

Werden nicht nur philosophische Argumente, sondern auch klimawissenschaftliche Aspekte miteinbezogen, besteht zumindest eine Möglichkeit, das NIP zu umgehen. Dabei müssen wir uns von Alina verabschieden und uns den bereits lebenden Menschen, insbesondere den Kindern widmen. Im Fall von Alina wurde davon ausgegangen, dass ihre Existenz mit unserer Entscheidung, keinen Klimaschutz zu betreiben, zusammenhängt. Dies trifft auf die Kinder, die bereits geboren sind, nicht mehr zu. Doch auch ihre Zukunft wird von unseren Handlungen abhängen. Die Ergebnisse der Modellierungen im sechsten Sachstandsbericht des IPCC von 2021 deuten unmissverständlich darauf hin, dass bereits die Temperaturentwicklung der nächsten Jahrzehnte davon abhängt, welche Maßnahmen wir jetzt treffen. So könnten sich bereits 2050 Temperaturen einstellen, die bei der Einhaltung des 2°C-Ziels niemals erreicht würden (siehe Abbildung, der Unterschied zwischen SSP1 und SSP5 ist deutlich zu sehen). Hinzu kommt, dass bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von über 80 Jahren in den westlichen Staaten viele Menschen, die 2022 Säuglinge sind, im Jahr 2100 noch leben werden. Dadurch könnten sie, wenn wir nichts gegen den Klimawandel tun bzw. diesen noch weiter befeuern, selbst die Folgen der prognostizierten globalen Erhöhung der Durchschnittstemperatur um über 4°C noch miterleben.

Die Berücksichtigung der bereits lebenden Menschen führt dazu, dass es recht einfach ist, das NIP zu umgehen, da wir gegenüber den bereits existierenden Menschen eine schwer anzweifelbare moralische Verantwortung haben. Dieser vergleichsweise pragmatische Lösungsansatz ist allerdings philosophisch betrachtet nur wenig befriedigend. 

Der vorgestellte philosophische Lösungsversuch hat gezeigt, wie schwer es ist, das NIP logisch anzugreifen. Daher wird in der Klimaethik zumeist auf alternative Ansätze verwiesen, durch die unsere Generation moralisch zum Klimaschutz verpflichtet werden kann. Gemein haben sie, dass sie Teile der für das NIP geltenden Grundannahmen ausklammern. Beim NIP wird von einem personenbezogenen Schadensbegriff ausgegangen, d.h. dass wir eine bestimmte Person, also z.B. Alina, durch unser Handeln schlechter stellen müssen, um moralisch falsch zu handeln. Da wir zukünftige Personen aber nicht schlechter stellen, weil es sie ohne unser Handeln nicht geben würde, fügen wir ihr nach diesem Prinzip keinen Schaden zu. Wenn die Konsequenzen des Klimawandels aber unabhängig von der Identität derer betrachtet werden, die unter den Folgen leiden werden, ist es möglich, uns moralisch zum Klimaschutz zu verpflichten. Diese Herangehensweise ist wohl die intuitivste Kritik am NIP, weil wir ohne die Problematik des NIP zu kennen einfach von „zukünftigen Generationen“ sprechen würden, unabhängig davon, aus welchen konkreten Personen diese bestehen. Unter den nicht-personenbezogenen Ansätzen gibt es verschiedene, beispielsweise wird die Klimaschutzpflicht im fünften Sachstandsbericht des IPCC über die Gefährdung des Werts der Natur und vieler Aspekte des menschlichen Lebens begründet. 

Ein anderer Ansatz begründet die Pflicht zum Klimaschutz mit allgemeinen Rechten. Dass Alina mit ihrer Aussage unrecht hat, liegt daran, dass sie davon ausgeht, dass es ihr besser ginge, hätten wir Klimaschutz betrieben. Wenn sie sich aber auf ihr Recht auf ein Mindestmaß an Lebensqualität berufen würde, könnte sie uns vorwerfen, dass wir nichts gegen den Klimaschutz getan haben, weil wir dadurch dieses Recht verletzen.

Gerade die alternativen Ansätze zeigen, dass es notwendig ist, nicht nur die konkrete Argumentation des NIP zu betrachten, wenn sich die Frage stellt, ob wir Klimaschutz betreiben müssen. Durch rechtsbasierte Herangehensweisen oder allgemeine Werte lässt sich schlüssig für eine Pflicht zum Klimaschutz argumentieren. Das bedeutet, dass wir wenn wir uns allein aufgrund des NIP dazu entschließen würden, nichts gegen den Klimawandel zu tun, nach den anderen Ansätzen unethisch handeln würden. Das wichtigste Argument gegen die Beachtung des NIP bei Klimaschutzfragen ist allerdings der Umstand, dass wir auch auf die bereits existierenden Menschen Rücksicht nehmen müssen, für die das NIP nicht gültig ist. Gegenüber ihnen haben wir ein moralische Verantwortung, die wir nicht ignorieren dürfen. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Paradoxon künftiger Individuen eine philosophische Gedankenspielerei, die bei praxisrelevanten Fragen zum Klimaschutz keine Anwendung finden sollte.

 

Quellen

• Bontly, T.D. (2019): Climate change, intergenerational justice, and the non-identity effect. In: Intergenerational Justice Review, 5(2), 56-62.
• IPCC (2014a): Full Report. In: Climate Change 2014. Mitigation of Climate Change. Contribution of Working Group III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge University Press.
• IPCC (2021): Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung. In: Klimawandel 2021: Naturwissenschaftliche Grundlagen. Beitrag von Arbeitsgruppe I zum Sechsten Sachstandsbericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC). Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle.
• Kavka, G. S. (1982): The Paradox of Future Individuals. In: Philosophy & Public Affairs, 11(2), 93-112.
• Lenton, T.M., Held, H., Kriegler, E., Hall, J.W., Lucht, W., Rahmstorf, S., Schellnhuber, H.J. (2008): Tipping elements in the Earth’s climate system. In: Proceedings of the National Academy of Sciences - PNAS, 105(6), 1786-1793.
• McMahan, J. (1998): Wrongful Life: Paradoxes in the Morality of Causing People to Exist. In: Coleman, J. L. (Hrsg.): Rational Commitment and Social Justice. Essays for Gregory Kavka. Cambridge University Press, 208-248.
• McMahan, J. (2021): Climate Change, War, and the Non-Identity Problem. In: Journal of Moral Philosophy, 18, 211-138.
• Parfit, D. (1982): Further Generations: Further Problems. In: Philosophy & Public Affairs, 11(2), 113-172.
• Parfit, D. (1987): Reasons and Persons. Clarendon Press.
• Parfit, D. (2010): Energy Policy and the Further Future: The Identity Problem. In: Gardiner, S. M., Caney, S., Jamieson, D., Shue, H. (Hrsg.): Climate Ethics: Essential Readings. Oxford University Press, 112-121.
• Roberts, M.A. (2020): The Nonidentity Problem. In: Zalta, E. N. (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2020 Edition). URL: https://plato.stanford.edu/archives/win2020/entries/nonidentity-problem (Stand: 19.12.2021).
• Shue, H. (2011): Human rights, climate change, and the trillionth ton. In: Arnold, D.G. (Hrsg.): The Ethics of Global Climate Change. Cambridge University Press, 292-324.
• Tank, L. (2021): Climate Change and Non-Identity. In: Utilitas (FirstView Articles), 1-13.
• Tremmel, J.C. (2018): Fact-insensitive thought experiments in climate ethics – Exemplified by Parfit’s non-identity problem. In: Jafry, Tahseen (Hrsg.): The Routledge Handbook of Climate Justice. London: Routledge, 42-56.
• United Nations (2015): Paris Agreement. URL: https://treaties.un.org/Pages/iewDetails.aspxsrc=IND&mtdsg_no=XXVII-7-d&chapter=27&clang=_en (Stand: 27.12.2021).
• WHO (2020): Life expectancy at birth (years). URL: https://www.who.int/data/gho/data/indicators/indicator-details/GHO/life-expectancy-at-birth-(years) (Stand: 25.12.2021).
• WHO (2021): Climate change and health. URL: https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/climate-change-and-health (Stand: 22.12.2021).

Schreiben Sie einen Kommentar

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner